Häsli Häsli

 

von Coline Serreau

in einer Mundartfassung von Eva Mann

 

Eine ganz normale Familie am Rande

des Nervenzusammenbruchs

 

Eigentlich hätte ja langsam Ruhe einkehren können bei Häslis. Vier der fünf Kinder sind flügge geworden – oder zumindest fast: Medizinstudium, Dolmetscherschule, ein gemeinsam geführtes Café und eine bevorstehende Hochzeit. Allein das Nesthäkchen, Häsli Häsli genannt, erzählt ein bisschen viel von Ausserirdischen und passt in der Kanti zu wenig auf. Aber wenn Papa endlich die in Aussicht gestellte Lohnerhöhung bekommt, kann das schöne Leben losgehen.

 

Nur: Es kommt anders. Ganz anders. Die erwachsenenKinder suchen Zuflucht im elterlichen Nest, und als dann auch noch die geschwätzige Nachbarin von oben und die Polizei auftauchen, wird es langsam aber sicher eng in der kleinen Wohnunger der Häslis.

 

Liebes Publikum 

Dies ist meine zweite Begegnung mit Coline Serreaus Hasenbande. 2019 spielte ich selbst das kleine Häschen (das in professionellen Produktionen öfters als Hosenrolle, d.h. mit einer erwachsenen, weiblichen Schauspielerin, besetzt wird). So habe ich schon einige Zeit Gelegenheit gehabt, mich in die behagliche und chaotische Welt der Familie Hase einzufühlen. – Ja, sie ist beides, behaglich und chaotisch – und überhaupt viel Entgegengesetztes in kurzer Abfolge oder gar zugleich: Die Eltern haben sich lieb und finden keine Sprache zueinander, die Geschwister streiten sich aufs Blut und riskieren alles füreinander und das kleine Häschen fühlt sich ganz aufgenommen und als Ausserirdischer.

 

Coline Serraus Stück ist daher zugleich eine chaotische Komödie über allzu viel Nestwärme und eine Tragödie, in der ein zum Terrorist entgleister Idealist versehentlich seinen Bruder in die Luft sprengt. Sie verhandelt politische Umwälzungen als Krach am Esstisch und löst Weltprobleme mit Hilfe außerirdischer Träume eines

 

Schulversager-Teenies: Deus-Ex-Machina (oder eher Lepus-Ex-Machina) und der Weltfrieden ist da. Und wir möchten so gerne daran glauben!

 

Neulich lernte ich von einer Freundin (die noch immer Freundin ist, obschon wir zum grossen Thema der letzten zwei Jahre öfters unterschiedliche Ansichten haben) ein nützliches Wort: Ambiguitätstoleranz. Es wird definiert als die Fähigkeit, «Vieldeutigkeit und Unsicherheit zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu können» – ohne wütend zu werden oder sich vorbehaltslos auf die eine oder andere Seite zu schlagen.

 

Ich glaube, das ist es, was mich nach vier Jahren Beschäftigung damit immer noch an Coline Serreaus Stück fesselt. Es fordert und trainiert «Ambiguitätstoleranz».

 

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen viel Neugier, viel Freude an jeder schrägen, widersprüchlichen Figur dieses Abends – dann entsteht vielleicht eine kleine utopische Insel im unübersichtlichen Jetzt.

 

Eva Mann

Regisseurin und Übersetzerin